18 Okt Warum man mit Rundumschlägen keine wirklichen Treffer landet
Ich kann nicht leugnen, dass ich mit der auf sieben Teile angelegten Zukunftsstudie „2025: Smart Value Networks“ ein wenig hadere, die von GS1 Germany zusammen mit der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC und dem Rheingold-Institut herausgegeben wird. Wie der erste Teil so liest sich auch das zweite Whitepaper zum Thema Omnichannel wie eine Verkaufsbroschüre.1
Der Anfang ist durchaus vielversprechend. Die Studie fordert nichts weniger als eine Neudefinition des POS: „Der POS der Zukunft ist nicht mehr stationär oder digital. Er ist zu einer Realität verschmolzen: vernetzt, durchlässig, multioptional.“ Entscheidend sei „die durchgängige Vernetzung aller Formen des POS im Sinne des Shoppers“.
Ich bin skeptisch, ob die schöne neue digitale „Shoppingwelt 4.0“ schon in wenigen Jahren Realität sein wird.
Was darauf folgt, ist mehr oder weniger ein 20-seitiger Rundumschlag, in dem die üblichen Verdächtigen der digitalen Transformation als vermeintliche Innovationstreiber nicht fehlen dürfen. Die Verfasser werden nicht müde zu betonen, wie unerlässlich Augmented Reality, Face Recognition, Personal Assistants, künstliche Intelligenz, Chatbots, Predictive Analytics und all die anderen neuen Technologien sind, um Shoppern künftig ein durch Bequemlichkeit und Convenience geprägtes Einkaufserlebnis zu ermöglichen.
Innerhalb der kommenden drei Jahre, so die Studie, werden diese Technologien „ihr desruptives Potenzial entfalten“. Darauf gilt es vorbereitet zu sein: „Die erfolgreichen Handelsunternehmen des Jahres 2025 haben einen signifikanten Veränderungs- und Entwicklungsprozess bewältigt …“ Sie haben „große Visionen, die sie in kleinen Schritten konsequent verfolgen, statt sich primär auf den kurzfristigen Return on Investment oder Shareholder Value zu fokussieren.“
Ich möchte betonen, dass ich kein Feind des Digitalen bin. Ebenso wie die Verfasser der Studie bin ich überzeugt, dass unsere Zukunft noch digitalisierter, vernetzter und technologiegeprägter sein wird als heute. Aber ich bin skeptisch, ob die schöne neue „Shoppingwelt 4.0“ schon in wenigen Jahren so umfassend Realität sein wird, wie die Autoren der Studie es uns glauben machen. Schließlich warten wir seit der Einführung des iPhones bereits mehr als zehn Jahre auf „the next big thing“.
Auch beim Thema Omnichannel sind berechtigte Zweifel angebracht. Es ist in den vergangenen zehn Jahren viel darüber geredet und geschrieben wurde. Doch nach einer aktuellen Studie von Roland Berger haben rund 80 % der Händler immer noch keine Omnichannel-Strategie und können ihren Kunden somit keine nahtlose, kanalübergreifende Shopper Experience bieten.2 Wie es scheint, lässt das goldene digitale Zeitalter noch ein wenig auf sich warten.
Die neuen digitalen Technologien können eine begeisternde Shopper Experience unterstützen, aber nicht schaffen.
Das bedeutet nicht, dass wir die technologischen Entwicklungen bis dahin mit ruhigem Gewissen ignorieren können. Ich stimme den Autoren zu, dass wir heute die Grundlagen für morgen legen müssen. Doch die neuen Technologien werden die Strukturkrise, in der sich die Retail-Branche befindet, höchstens abschwächen, aber nicht beseitigen.
Die größte Herausforderung des Handels besteht momentan und auch auf längere Sicht darin zu erkennen, dass er keine Produkte, sondern Erfahrungen verkaufen muss. Darauf haben Joseph Pine II und James H. Gilmore bereits vor zwanzig Jahre hingewiesen, als sie das Aufkommen der neuen „Experience Economy“ ankündigten.3 Auch die Autoren der GS1 Zukunftsstudie teilen diese Ansicht: „2025 steht der Handel in einem intensiven Erlebniswettbewerb.“
Um diese Herausforderung zu meistern, sind weniger digitale Innovationen als vielmehr ein ganzheitliches Shopper Experience Design gefordert, das den Kunden einzigartige, inspirierende und erinnernswerte Erfahrungen vermittelt. Die neuen Technologien spielen dabei eine unterstützende Rolle, indem sie alle Hindernisse aus dem Weg räumen, die einer begeisternden Shopper Experience im Wege stehen könnten. Aber ihre Implementierung macht aus einem Store noch lange keinen Erlebnisraum.
Am besten machen Sie sich selbst ein Bild von der GS1 Zukunftsstudie. Das zweite Szenario wie auch die anderen Whitepapers, können Sie hier downloaden: https://www.gs1-germany.de/innovation/trendforschung/zukunftsstudie/
Quellennachweise:
1 GS1 Germany: Omni-Channel Retailing 2025. Ein neuer Blick auf den Point of Sale. Szenario 2 der Studie „2025: Smart Value Networks“, September 2018.
2 Claudia Russo: Handel: Acht von zehn Unternehmen haben immer noch keine Omnichannel-Strategie, auf: rolandberger.com, 05.03.2018.
3 B. Joseph Pine II / James H. Gilmore: Welcome to the Experience Economy, in: Harvard Business Review, Juli/August 1998.